Reise nach Naya Bazaar

5 Uhr Morgen in Kathmandu. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen und über der Hauptstadt liegt noch der Nebel der letzten Nacht. Die Straßenhunde, die den Tag in der pulsierenden und stickigen Stadt überwiegend schlafend verbringen und erst mit Beginn der Nacht ihre müden Knochen strecken, um sich in den engen Straßen auf die Suche nach etwas Essbaren zu machen, begeben sich langsam wieder zurück an ihre Schlafplätze. Ein paar vereinzelte Bewohner Kathmandus sind bereits auf den Straßen unterwegs und ein Motorrad fährt mit viel Geknatter an einem Kleinbus vorbei, der am Straßenrand geparkt ist und um den sich eine kleine Menschenguppe versammelt. Wanderrucksäcke werden auf dem Dach des Buses festgezurrt und sechs Personen nehmen ihren Platz im Auto ein, das in den nächsten 12 Stunden auf den holprigen Straßen Nepals von Kathmandu nach Ilam unterwegs sein wird.
Als der Kleinbus die Hauptstadt etwa eine Stunde später verlässt, sind die Augen der Mitfahrenden bereits müde zugefallen und die Landschaft, die mittlerweile von der aufgehenden Sonne beleuchtet wird, zieht unbemerkt an den sechs Personen im Bus vorbei.
Als wir einige Stunden später müde unsere Augen reiben und aus unserem komaartigen Tiefschlaf erwachen, können wir an der veränderten Landschaft erkennen, dass wir bereits ein gutes Stück des Weges zurückgelegt haben. Im wachen Zustand nehmen wir außer der wunderschönen Landschaft, die an uns vorbeizieht, auch die Straßenverhältnisse wahr. Auf unseren Sitzen werden wir ordentlich durchgeschüttelt und in den Kurven von links nach rechts geworfen. Teilweise hebt der Po einige Zentimeter von der Sitzfläche ab und bei der Landung sind wir froh um die roten Lederpolsterungen auf unseren Sitzen.
Wieder einige Stunden später, in denen wir viele weitere Kilometer und Höhenmeter zurückgelegt haben, macht der Bus einen Stop, um uns allen eine kleine Lunchpause und etwas frische Luft zu gönnen. Es tut gut die eingerostet Glieder zu strecken und der mit Beginn der Mittagshitze immer stickigeren Luft im Kleinbus für eine kurze Zeit zu entfliehen.
Wir haben die Halbzeit unserer Fahrt erreicht, wobei wir alle noch recht guter Laune sind und auch unser Mägen bei den Straßenverhältnissen Nepals noch nicht rebelliert haben.
Auch einige Stunden später hat sich an unserer Situation wenig verändert, die Landschaft vor unserem Fenster hat jedoch eine erneute deutliche Veränderung erlebt:
Während wir uns das erste Drittel unserer Fahrt serpentinenartig über eine große Hügelkette gekämpft haben, befinden wir uns mittlerweile auf einer schnurgeraden Straße, die vorbei an kleineren Häuseransammlungen, Seen und lichten Wäldern führt und eine relativ flache Landschaft an uns vorbei zieht.

Die letzten Stunden unserer zwölfstündigen Tour verbringen wir schlafend, miteinander redend, schlafend, dir Landschaft beobachtend und wieder schlafend. Am frühen Abend mit Beginn der Dämmerung erreichen wir endlich Phikkal, einen kleines Dörfchen, das uns als Zwischenübernachtung dient, bevor wir am nächsten Morgen mit dem Jeep auf die andere Seite des Hügels nach Naya Bazaar weiterfahren. Offensichtlich haben wir den ganzen Tag über im Kleinbus noch nicht genügend geschlafen, denn nach einem kurzen Spaziergang durch das Örtchen und einem Abendessen bestehend aus Dhaal Bhaat, fallen wir alle müde in unsere Betten. Davor senden wir allerdings noch ein Stoßgebet an den Himmel und hoffen auf einen regenfreien Tag für morgen. Sollte es nämlich in der Nacht oder am morgen regnen, wäre es für den Jeep unmöglich die "Straße" nach Naya Bazaar zu bewältigen. Uns würde nichts anderes übrig bleiben als die Strecke zu Fuß mit unserem ganzen Gepäck zu laufen. Keine sehr rosige Aussicht also!

Der Himmel hat uns erhört und am nächsten Morgen wachen wir zu strahlendem Sonnenschein auf - eine echte Seltenheit während der Monsunzeit. Nach dem Frühstück bestehend aus Dhaal Bhaat erwartet unser Jeep uns bereits. Schnell verstauen wir die Wanderrucksäcke auf der Ladefläche, klettern diesen nach und machen es uns so gut es geht auf den harten Holzbänken bequem. Eine einfache Bambusstange, die quer über die offene Ladefläche des Jeeps verläuft, dient uns zum Festhalten während der Fahrt und ersetzt damit quasi die Sicherheitsgurte.
Los geht die Fahrt! Mit unseren Knien und Beinen sind wir bemüht unsere Rucksäcke irgendwie an Ort und Stelle zu halten. Unsere Hände sind um die Bambusstange gekrallt. Dennoch können wir nicht vermeiden, dass unsere Körper munter auf und ab hüpfen und nach links und rechts geschleudert werden. Zwei Stunden später hat sich der Jeep endlich den Hügel hochgekämpft und wir erreichen Naya Bazaar!

Über unsere Ankunft haben wir alle uns wohl die meisten Gedanken gemacht: Wie sieht unsere Gastfamilie aus? Wie werden wir untergebracht sein? Wie wird die Verständigung klappen? Werden wir fließend Wasser haben? Wie sieht der Tagesablauf der Familie aus und damit auch unserer? Freuen sich die Dorfbewohner über unseren Aufenthalt oder werden wir ihnen in ihrem alltäglichen Leben eher zur Last fallen? Inwieweit können und dürfen wir unserer Familie unter die Arme greifen? (Nepalesen haben ein sehr klares Verständnis von der Aufgabenverteilung von Gast und Gastgeber.) Wo genau im Dorf wird das Bauprojekt realisiert werden? Wie sieht die Arbeitsmotivation des ganzen Dorfes für das Projekt aus?
Fragen über Fragen, auf die wir nun endlich Antworten finden.
Als wir mit dem Jeep auf den kleinen Hof unserer Gastfamilie einfahren, erwartet und bereits eine große Gruppe Menschen, die uns alle freundlich anlächeln und wild durcheinander reden und tuscheln. Wir werden in ein buntes in grün, lila und orange angestrichenes Haus geführt, das die gemütliche Wohnküche unserer Gastfamilie darstellt. Eifrig kramen wir in unseren Gedächtnissen und versuchen uns angestrengt an unser nepalesisches Sprachrepertoire zu erinnern. Überflutet von den ersten Eindrücken und den plappernden Menschen um uns herum, begnügen wir uns damit, die meiste Zeit einfach die freundlich lächelnden Gesichter mit einem ebenso herzlichen Lächeln zu erwiedern und nehmen dankend den dudh chya, den Schwarztee mit Milch an, der uns gereicht wird.
Im Wohnzimmer sitzend und den leckeren dudh chya schlürfend, erfahren wir von Kritan, unserem nepalesischen Mitfreiwilligen und Übersetzer, dass das Dorf eine komplettes Welcoming Programm für uns organisiert hat und wir uns nun auf den Weg dorthin machen. Wir sollen uns außerdem bitte überlegen, wer als stellvertretender Sprecher von uns eine kleine Rede vorbereitet, in der er uns alle kurz vorstellt, erzählt wo wir herkommen und den Grund unseres Aufenthaltes erläutert. Wir schauen an uns herunter, fühlen uns in unseren von der langen Fahrt abgeranzten Klamotten dezent unpassend gekleidet und definitiv nicht bereit, den ganzen Dorfbewohnern gegenüber zu treten. Doch was bleibt uns anderes übrig, als aus der Situation das beste herauszuholen, was es herauszuholen gibt und uns im Rahmen der Möglichkeiten von unserer gestriegeltsten Seite zu zeigen.
Die Dorfbewohner haben sich für die Willkommensfeier wirklich ins Zeug gelegt. Auf Plastikstühlen sitzen wir unter einem Wellblechdach, das von dicken Bambusstäben gestützt wird und eigens für diesen Anlass gebaut wurde. Es gibt ein kleines Rednerpult samt Mikrofon und Blumendekoration und ein Plakat beschreibt in nepalesischer Schrift den Grund der heutigen Versammlung. Aus Lautsprechern dröhnt nepalesische Musik, während sich der kleine Platz langsam mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen füllt. Nachdem alle einen passenden Sitzplatz gefunden haben, startet das Programm offiziell. Für die Reden, die von allerlei wichtigen Personen des Dorfes geschwungen werden, reicht unser Nepali leider bei weitem noch nicht aus.
Kritan übersetzt uns jedoch die wichtigsten Punkte und so bekommen wir zumindest einen groben Überblick über das Gesagte. Die Freude und Dankbarkeit über unsere Unterstützung sowie über unsere Anwesenheit und das Versprechen aller Dorfbewohner, die Realisierung des Bauprojektes tatkräftig voranzutreiben, erfüllt uns mit Glück und wir fühlen uns alle ein großes Stück wohler in der uns noch fremden Umgebung mit den uns noch fremden Menschen. Nachdem auch wir uns persönlich beim Dorf vorgestellt haben, wird dem Redenschwingen erst mal ein Ende gesetzt und das Welcoming Programm nimmt schwungvollere Züge an - denn jetzt wird nepalisch getanzt! Schnell merken wir, dass Musik und Tanzen ein wichtiges Thema in Nepal und auch unserem Dorf ist und so können wir uns aus einem gemeinsamen Tanz mit den Frauen der Gemeinde nicht herausreden. Am Anfang noch etwas verkrampft doch irgendwann ausgelassener und mutiger bewegen wir uns zu der nepalesischen Musik und lernen einige neue Tanzfiguren kennen, die man so bei uns in Deutschland sicherlich nirgends wiederfindet. Nach etwa zwei bis drei Liedern wird entschieden, dass es jetzt fürs Erste einmal reicht mit dem Tanzen und wir setzen uns alle wieder auf unsere Plastikstühle. Wir sind kaum wieder zu Atem gekommen, als vier Ziegelsteine herangebracht werden und von zwei Männern feierlich in ein Loch an der rechten Ecke des Wellblechdachpavillions gelegt werden. Kritan erklärt uns, dass nun die Grundsteinlegung vorgenommen wird, in Nepali 'Silonjes' genannt. Wir werden herangewunken und bekommen Räucherstäbchen in die Hände gedrückt, die wir neben den Ziegelsteinen in die Erde stecken und diese mit etwas Wasser beträufeln sollen. Unsere Gastmutter kommt mit einem Tablett voller orangener Kügelchen herbei. Sie hält uns das Tablett unter die Nase und nach einigen erklärenden Handbewegungen, verstehen wir, dass das orangene Zeugs tatsächlich etwas Essbares ist und wir eine kleine Portion der Süßigkeit essen sollen. Wieder auf unseren Plastikstühlen sitzend, bekommen alle Anwesenden einen Milchtee, dudh chya, und einen Teller mit Kartoffelgemüse und Paroti, dem nepalesischen Fladenbrot, serviert. Wir haben kaum unser Essen und unseren Tee ausgetrunken, als wir schon wieder von unseren Plastikstühlen gewunken werden. Die nächste halbe Stunde verbringen wir damit, in diverse Kameras und Handys zu lächeln und werden dabei von einer Person zur nächsten geschoben. Wir sind DIE Attraktion und es würde mich nicht wundern, wenn die Handyspeicherkarten besonders unserer jugendlichen Dorfbewohner nach diesem exzessiven Fotoshooting voll sind.
Die Versammlung löst sich langsam auf und wir werden von wild durcheinander plappernden Kindern zurück zu unserem Haus gebracht. Dort packen wir die Springseile aus, die wir vor unserer Abreise nach Ilam noch in Kathmandu besorgt haben und verbringen den restlichen Nachmittag und Abend damit, diverse Springspiele mit den Kindern zu spielen. Der heutige Tag hat das Eis zwischen uns und den Dorfbewohnern auf jeden Fall schnell gebrochen und wir fühlen uns alle bereits sehr wohl in dem bunten Wohnhaus unserer Gastfamilie mit dem kleinen Hof in der Mitte, der scheinbar nie ohne herumwuselnde, spielende Kinder zu sein scheint.